Der Lagerhausturm in Schleinbach

Oft beobachtete ich zwei Frauen, die sich am frühen Nachmittag am Hauptplatz trafen und dann gemeinsam Richtung Gasthof Mutti spazierten. Ich dachte damals, hier kann ich leben.

Jetzt, dreißig Jahre später, ist vieles anders geworden. Ich hole keine Kinder von der Schule ab, ich kaufe nicht am Hauptplatz ein, ich gehe nicht zur Post oder zum Fleischhauer, ich gehe mit Clasien spazieren und es gibt immer noch Orte, die wir gerne besuchen und entdecken.

Wir treffen uns beim Kaiser Franz Joseph am Hauptplatz in Schleinbach. Wir wollen den Lagerhausturm besuchen. Heftiger Wind weht und es fühlt sich kälter an als es ist. Wir halten uns nicht lange beim Kaiser auf. Laut Tafel steht er seit 1908 hier und beobachtet. Viele Menschen sieht er heute nicht, mittags um 12 Uhr ist der Hauptplatz fast menschenleer, ein einzelner Mann überquert rasch die Straße und steigt in sein Auto.

Wir machen uns auf den Weg. Vom Feldweg biegen wir in den Ziegelofenweg ein. Wir gehen rasch, ich setze meine Kapuze auf, der Wind bläst durch meine Wollhaube. Oben angekommen, sehen wir „unseren Turm“. Wir mögen beide dieses Gebäude sehr. Es ist ein markantes Zeichen in dieser sanft hügeligen Landschaft und diesmal hebt sich der Turm gegen einen dramatischen Himmel ab. Die Wolken fliegen, dazwischen gibt es blaue Himmelslöcher. Der Turm ist 44 Meter hoch und hat einen Grundriss von 10 × 15 Metern. Auf seinem Kopf ist eine wilde Frisur, er wird als Senderstandort genutzt. Heute hebt er sich strahlend weiß vom Hintergrund ab und mir fällt das Wort „tadellos“ ein. Unser Turm steht wieder einmal tadellos da, sage ich und Clasien lacht und macht Fotos.

Wir haben dieses Gebäude schon sehr oft umkreist und einmal wollten wir den Turm mit einem Projekt beim Weinviertelfest feiern. Vieles ist uns damals eingefallen. Feste wollten wir am Lagerplatz organisieren, musizieren wollten wir dort und Texte schreiben. Es ist nichts geworden aus unseren Plänen.

Wir durchqueren die Bahnhofsunterführung, gehen über den riesigen Lagerplatz. Momentan ist er ziemlich leer, ein paar bunte Kabelrollen liegen herum, Schutt und abgeholzte Büsche. Ein Auto fährt an uns vorbei.

Steil und eng sind die Stufen im Lagerhaus. Den Lift nehmen wir lieber nicht, er schaut nicht vertrauenswürdig aus. Die Stufen scheinen kein Ende zu nehmen. Die Fenster lassen nur wenig Aussicht, mein Mantel wird grau und staubig. Rasch steigen wir hinauf. Wie lange noch, schnaufe ich. Am Dach werden wir belohnt. Wir stehen zwischen den Antennen und freuen uns über die Aussicht. So klein liegt der Bahnhof vor mir! Wir bleiben nicht lang, der Wind zerrt an unseren Kleidern, aber wir lachen uns an und fühlen, als hätten wir einen Berggipfel erklommen.

Sorgfältig schließen wir wieder die Tür der Plattform und steigen ab. Das geht schnell, ich spüre trotzdem die vielen Stufen in meinen Oberschenkeln. Erst beim Hinuntergehen haben wir Augen für die Rohre, in denen das Getreide in die Lagerräume geblasen wird. Es ist staubig hier und dunkel, aber doch auch wieder irgendwie schön. Ganz unten sehen wir einen Sack voller Sojabohnen.

Als wir wieder über den Lagerplatz gehen und den Turm hinter uns lassen, ist uns warm vom Aufstieg und vom guten Gefühl, unserem Turm wieder ein Stück näher gekommen zu sein. Wir wissen jetzt auch, wie es in ihm innen ausschaut.

Bei Kaffee und Kuchen Im Gasthof Aprea lassen wir unseren Spaziergang noch einmal nachklingen, schauen die Fotos an und machen Pläne. Das nächste Mal werden wir nach Kronberg einkaufen gehen, nehmen wir uns vor.